Ein Gewehrlauf zielt auf den Betrachter. Der dunkle Fond verrät nicht, wer die Waffe hält. Die offene Mündung der Doppelflinte ist so groß, dass sie ganz nah scheint. Das Albumcover von Carl Maria von Webers romantischer Oper Der Freischütz beeindruckt durch seine Reduktion und Unmittelbarkeit, ja Radikalität. Entworfen wurde es 1973 von Holger Matthies, einem in Hamburg ansässigen Designer, bekannt durch seine zahlreichen Plakatentwürfe. Der vielfach ausgezeichnete Gestalter, der seine Kenntnisse seit 1994 auch als Professor für visuelle Kommunikation an der Universität der Künste in Berlin an seine Student:innen vermittelte, war über Jahre für Deutsche Grammophon tätig. Geschätzte 150 Alben tragen seine Handschrift. Überwiegend basieren die Cover auf der Inszenierung von realen Gegenständen, deren verfremdendes Arrangement oft einen subtilen Bildwitz erzeugt:
Die oben erwähnte atemberaubende Unmittelbarkeit zeichnet auch den musikalischen Teil der Aufnahme aus, die mit herausragenden Solisten und der Staatskapelle Dresden unter Leitung von Carlos Kleiber in der Dresdner Lukaskirche realisiert wurde. In einem ungewöhnlich langen Aufnahmezeitraum von zwei Wochen wurde im Februar 1973 jedes Detail der Partitur herauspräpariert, die hörspielartige Einrichtung der Sprechszenen (durch Schauspieler, nicht durch die Sänger) trägt viel zum Realismus der Aufnahme bei.
Dass der Gestalter auf dem Cover im Titelschriftzug sogar Einschusslöcher simulierte (damals noch ohne Photoshop, sondern durch echte Perforation des fast fertigen Coverentwurfs mittels eines spitzen Bleistifts), gibt dem Cover eine weitere Wendung ins Hyperrealistische.
Der Designer, der die künstlerischen Entwicklungen seiner Zeit sehr aufmerksam verfolgte, war womöglich inspiriert von Künstler:innen wie Lucio Fontana oder Niki de Saint Phalle, die beide die Oberfläche von Gemälden thematisierten, indem sie sie durchbrachen. Fontana schuf ab Ende der 1940er-Jahre zunehmend Bilder und Objekte, deren Oberflächen perforiert waren und damit eine gesteigerte Plastizität aufwiesen. Besonders die Gemälde mit dem Titel »Concetto spaziale« (Raumkonzept), die durch Stiche oder Risse vermeintlich zerstört waren, sollten als Erweiterung des Raums und Öffnung der Bildfläche verstanden werden und letztlich einen neuen – skulpturalen – Bildbegriff etablieren.
De Saint Phalle dagegen trieb die Lust an der Zerstörung herkömmlicher Kunstformen so weit, dass sie auf Gemälde mit einem Gewehr schoss. Die vorher mit Nahrungsmitteln, Alltagsgegenständen oder auch Farbbeuteln beklebten Leinwände wurden eingegipst und durch die Schüsse in aufgerissene Schlachtengemälde verwandelt, die (auch) als Metapher für erlittene psychische Verletzungen der Künstlerin interpretiert werden konnten.
Dieses so radikalen künstlerischen Ideen nahestehende Cover war jedoch nur eine (wenn auch die bekannteste) Variante von mehreren Gestaltungen für ein und dieselbe Aufnahme. Und sowohl visuell als auch musikalisch spielt hier die Besonderheit der jüngeren deutschen Geschichte eine Rolle. Trotz der politischen Distanz zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik half die Kraft der Musik nämlich auch immer wieder, die Kluft zwischen den Systemen zu überwinden. So gab es doch recht regelmäßig gemeinsame Aufnahmeprojekte mit westlichen und östlichen Musiker:innen, auch bei DG:
Die Kooperationen mussten natürlich auf höchster politischer und diplomatischer Ebene genehmigt werden. Organisiert wurden sie seitens der DDR durch den VEB Deutsche Schallplatten, dessen Sitz im Reichstagspräsidentenpalais direkt an die Mauer angrenzte. Und sie dienten nicht nur dem Kulturaustausch, sondern auch der Erwirtschaftung von Devisen für das notorisch unterfinanzierte Staatsgebilde, war die DDR-Mark doch eine nicht-konvertible Währung. Veröffentlicht wurden die Aufnahmen jeweils in beiden Staaten, auf dem jeweiligen Label, in diesem Fall Deutsche Grammophon (West) und Eterna (Ost). So kam es, dass auch die Gestaltung den labeleigenen Gesetzmäßigkeiten unterlag und in der jeweiligen Grafikabteilung betreut wurde.
Während im Fall des Freischütz seitens der DG ein eher avantgardistisches Cover entwickelt wurde, wählte man im Hause Eterna eine sehr klassische Lösung. Bei dem ostdeutschen Label waren sowohl die 3-LP-Gesamtaufnahme als auch der 1-LP-Querschnitt mit demselben Motiv geschmückt. Der Gestalter Christoph Ehbets (1935–1992) wählte hierfür einen Entwurf zum Bühnenbild des Freischütz für das Hof- und Nationaltheater München von Lorenzo Quaglio von 1822, also dem auf die Uraufführung folgenden Jahr. Die dramatische Fels- und Waldlandschaft entspricht genau der Schauerromantik, wie sie in der Handlung dieser fast märchenhaften Oper angelegt ist. Knorrige Wurzeln klammern sich an schroffe Felsen, die Wolkengebirge des nächtlichen Himmels werden vom Vollmond dramatisch beleuchtet. Mit klassischer Antiqua-Typografie wird in Weiß am oberen und unteren Bildrand Komponist, Label und Werktitel vermerkt.
Ehbets hatte von 1955 bis 1959 in Westberlin an der Meisterschule für Grafik und Buchgewerbe studiert und arbeitete danach in Ostberlin als freischaffender Gebrauchsgrafiker. Vor allem für die beiden staatlichen Labels Amiga und Eterna schuf er variantenreiche Albumcover, deren Zahl in die Hunderte geht. Nach dem Ende der DDR wurde der ehemals volkseigene Betrieb in die Deutsche Schallplatten Berlin GmbH überführt, die Markenrechte wurden jedoch bald verkauft. Diese Zeit des Umbruchs war für viele ehemalige DDR-Bürger eine Zeit großer Unsicherheit, zumal wenn sie vorher in systemnahen Berufen und Betrieben tätig waren. Tragischerweise wählte Christoph Ehbets in dieser Situation den Freitod. Wie gern wüssten wir, was er bei einem Treffen mit seinem westdeutschen Kollegen Holger Matthies zu erzählen hätte.
Mit herzlichem Dank an Berlin Classics, a label of Edel Music & Entertainment GmbH (für die Unterstützung bei der Recherche)