Le Quattro Stagioni (Die vier Jahreszeiten) von Antonio Vivaldi zählt zu den berühmtesten Werken der klassischen Musik. Es gibt die vier Violinkonzerte in unzähligen Aufnahmen und die wichtigsten Geigenvirtuos:innen haben sie im Repertoire. Sie sind so bekannt, geliebt und verehrt, dass jeglicher Eingriff in die Notensubstanz als Frevel am Genie des venezianischen Komponisten gilt und sofort bemerkt wird: Jeder Ton ist heilig im kollektiven Gedächtnis der musikalischen Menschheitsgeschichte. Umso mehr Aufmerksamkeit erregte Max Richter, als er sich erlaubte, diese berühmten zwölf Sätze zu rekomponieren und unter dem Titel Recomposed by Max Richter – Vivaldi The Four Seasons zu veröffentlichen.
Richters Variante des Werks – gut 75 Prozent sind neu, und auch elektronische Instrumente kommen zum Einsatz – zeichnet sich aus durch akustische Schichten, die sich überlagern, und Tonschleifen, die wiederkehren. Richter fand also eine sehr zeitgenössische Form, die auf seinem Interesse für Minimal Music und Kompositionen der Postmoderne basiert. Und trotzdem ist seine Interpretation als tiefe Verneigung vor dem Original zu verstehen. Ihr großes Echo in der Populärkultur (etwa in der Filmmusik) spricht dafür, dass Richter mit seiner Komposition den Zeitgeist traf und selbst in der Folge den Zeitgeist prägte.
Kongenial umgesetzt wurde die Komposition vom Konzerthaus Kammerorchester Berlin unter André de Ridder und mit Daniel Hope als Solist. Die Resonanz des Publikums nach Veröffentlichung des Albums war zwar gut, aber nicht durchschlagend. Das Cover der Aufnahme mag hier eine Rolle gespielt haben. In der Variante von 2012 zeigt es eine Collage aus Notenmaterial, auf dem Richter seine Bearbeitungen notiert hat. Darüber wurde die gelbe Kartusche platziert.
Diese Gestaltung eröffnete einen schönen Einblick in die Werkstatt des (Re-)Komponisten, doch besonders innovativ oder spektakulär war sie nicht. Es gab bald Stimmen, die für eine Überarbeitung plädierten, gerade auch um ein jüngeres Publikum zu erreichen, das nicht unbedingt mit Notenschrift vertraut ist und daher wenig emotionalen Bezug zum ursprünglichen Cover hat. Ungewöhnlicherweise beauftragte man dieselben Gestalter, die in Berlin ansässige Designagentur Double Standards. Man würde eigentlich meinen, dass der kreative Neuanfang mittels einer disruptiven Herangehensweise (und diese war hier gefragt) durch eine Firma ohne vorherigen Bezug zu dem Thema besser hätte gestartet werden können. Doch das Team machte seinem Namen alle Ehre. Es gelang ihm, auf der Basis des vertrauten Backgroundwissens zu dem Projekt doch zu einer gänzlich anderen Lösung zu finden, die dann auch durchschlagenden Erfolg auf dem Markt brachte.
Auf schlichtem grauem Grund stehen senkrecht zwölf schmale gelbe Balken. Die Zahl 12 steht hier für die insgesamt zwölf Sätze, aus denen die Vier Jahreszeiten bestehen und natürlich auch für die zwölf Monate eines Jahreslaufs. Diese gelben Streifen entstehen durch Durchblicke auf das Cover des Booklets, die möglich sind durch schlitzartige Ausstanzungen auf der nach rechts offenen vorderen "Tasche" des Digipacks, in der das Booklet steckt. Erst wenn man das Booklet herauszieht, offenbart sich ein Farbkonzept, das auch die vier einzelnen Konzerte visuell unterscheidbar macht. Die vier Farben können durchaus symbolhaft für die einzelnen Jahreszeiten gelesen werden, hier steht das Grün für des Frühlings sprießende Blätter, das Gelb für die Sommersonne, das Rot für das Herbstlaub und das Blau für das Eis des Winters. Sobald man aber das Booklet bewegt, offenbart sich ein Farbspiel: Durch die ausgestanzten Schlitze in der Pappe sieht man jeweils für den Bruchteil einer Sekunde eine der vier Farben des Bookletumschlags. Es wurde seinerzeit sogar extra ein Dummy angefertigt, um den Effekt zu testen. Sehen Sie hier exklusiv das Video, das Max Richter vom Kreativteam der DG zur Freigabe des Artworks bekam.
Der Effekt ist vergleichbar mit dem eines Daumenkinos oder Zoetrops, wo durch stroboskopische Blitzbilder die Illusion von Bewegung erzeugt wird. Auch bei der Vinyl-Version ist das gelungen. Nicht zuletzt ist dies eine Form des Layerings, wie es als Methode in der Komposition Richters angelegt ist. Produktionstechnisch stellt es eine große Herausforderung dar, die Vorderseite des Booklets und die Stanzungen des Digipacks beziehungsweise des Gatefold Sleeves der Vinyl-Variante so aufeinander abzustimmen, dass bei komplettem Einschub des Booklets jeweils die gelben, nur wenige Millimeter breiten Streifen unter den Aussparungen liegen. Jede Abweichung würde das Konzept stören. Doch die von Creative Manager Oliver Kreyssig verantwortete penible Abstimmung zwischen Grafikagentur und Druckerei sowie Sorgfalt bei der Konfektionierung der Einzelteile bis hin zum Einschweißen garantiert, dass auch bei einer hohen Auflage jedes Exemplar perfekt zum Käufer kommt.
Die Jewel-Case-Version zeigt dagegen klar strukturiert die vier farblich unterschiedenen Blöcke der Jahreszeiten mit ihren einzelnen Monaten beziehungsweise Sätzen.
Max Richter bereicherte mit The Four Seasons die Erfolgsgeschichte der Aufnahmen von Le Quattro Stagioni, die bei Deutsche Grammophon erschienen sind. Rückblickend sei daher auch an jene legendären Aufnahmen der letzten Jahrzehnte erinnert, die nicht nur durch das Mitwirken exzeptioneller Künstler:innen, sondern auch durch ihre individuell gestalteten Cover in die Musikgeschichte eingegangen sind. Jede Aufnahme hat ihren eigenen Stellenwert, ihre eigene Fangemeinde und auch ihre eigene visuelle Identität:
Exemplarisch für diese hohe Individualität der Gestaltung steht das Cover zu Trevor Pinnocks Interpretation der berühmten Konzerte mit dem Ensemble The English Concert und Simon Standage als Solist. Das recht zurückhaltend und antikisierend nobel gestaltete Cover besticht vor allem durch eine rätselhafte männliche Figur, die in einem kreisrunden Feld im Zentrum abgebildet ist.
Der muskulöse Torso trägt einen charaktervollen Kopf, der durch die aufgeblasenen Backen und die fantastische Haartracht wie ein Fabelwesen wirkt. Tatsächlich handelt es sich um den antiken Gott Äolus, den Beherrscher der Winde, der so in einer Handschrift der Frührenaissance dargestellt ist. Die verzierte Initiale eines Chorals stammt von Liberale da Verona; das Chorbuch ist 1470–74 für die Libreria Piccolomini im Dom von Siena entstanden.
Wer auch immer diese eher Kennern der Kunstgeschichte bekannte Miniatur für das DG-Cover ausgewählt hat, muss um die in der Kulturgeschichte gebräuchliche Analogie der vier Jahreszeiten mit den vier Winden (gemäß der Himmelsrichtungen) gewusst haben: Mithin betrachten wir ein gelehrtes und dabei äußerst dekoratives visuelles Aperçu.
Doch noch einmal zurück zu Max Richter. Fast zehn Jahre nach der Veröffentlichung seiner Vivaldi-Hommage widmete er sich erneut dieser Komposition. Diesmal kollaborierte er für die Aufnahme mit der Solistin Elena Urioste und dem Chineke! Orchestra, das aus ethnisch diversen jungen Musikern besteht. Richter war es wichtig, dass die Streichinstrumente mit Naturdarmsaiten bespannt waren, sodass sich ein anderer Höreindruck ergab, der die Komposition des 21. Jahrhunderts den Hörgewohnheiten von Vivaldis Zeitgenossen annäherte.
Auch für das Cover wollte man analog zu dieser Herangehensweise eine neue Lösung finden, die Alt und Neu miteinander verbindet. Die Londoner Designagentur Farrow orientierte sich am Vierfarbenschema des Vorgängers, löste dies jedoch in eine gemäßigtere Farbpalette auf, die auch sanfte Zwischentöne zuließ. Die Farbverläufe ergeben sich dabei proportional aus der Länge der einzelnen Sätze. Insgesamt wurde also auf allen Ebenen des Designs konzeptuell konträr zur Gestaltung aus dem Jahr 2012 gearbeitet: Vorher dominierten die Vertikalen, jetzt gibt es horizontale Streifen, einst waren die Kolumnen getrennt, nun sind die Übergänge unscharf, damals wählte man klare Farben, 2022 gedämpfte Couleurs. Eine Hommage ziert die Hommage. Raffinesse auf allen Ebenen!