Von Tristano selbst komponierte Musik leitet Scandale ein, Stücke von Igor Strawinsky, Nikolai Rimski-Korsakow und Maurice Ravel folgen. Den historischen Kompositionen ist gemein, dass sie einen Bezug zu den Ballets Russes und deren Impresario Sergej Djagilew haben und auch, dass sie zu musikalischen Skandalen führten. Ursprünglich als Orchesterwerke geschrieben, sind sie auf dem Album nun in Bearbeitungen der jeweiligen Komponisten für Klavier zu vier Händen zu hören, gleichwohl klingen sie auf den Tasteninstrumenten ebenso furios wie in großer Besetzung.
Die Entstehung des Covers und der anderen Fotografien zum Album verdankt sich dem Einfluss von House aus Detroit und Techno aus Berlin, was überraschen mag. Die Berliner Fotografin Marie Staggat ist der Detroiter Szene eng verbunden, begleitet sie doch seit 2010 wichtige Protagonist:innen fotografisch. 2016 publizierte sie das Buch »313ONELOVE – A Love Affair With Electronic Music From Detroit«.
Noch näher dran an den elektronischen Beats, quasi im Epizentrum der Berliner House- und Techno-Szene, war Staggat aber als Türsteherin des legendären Clubs »Tresor«, wo sie von 2007 bis 2017 arbeitete. Eben dort hörte sie im Sommer 2013 auf dem Festival Berlin Atonal zum ersten Mal Francesco Tristano. Staggat war so begeistert, dass sie Tristano fragte, ob sie ihn für ihr Portfolio fotografieren dürfe und so lud er sie zu seinem Konzert mit Alice Sara Ott in einer historischen Schwimmhalle ein, das wenige Wochen später in der Reihe »Musik im Salon« von ARTE veranstaltet und aufgezeichnet wurde.
Die Chemie zwischen den beiden jungen Künstler:innen und der Fotografin stimmte auf Anhieb, sodass schon an diesem Abend schöne Porträts entstanden.
Staggat war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Denn Merle Kersten, Art Direktorin der DG, war sofort überzeugt, dass sie die richtige Fotografin gefunden hatte, um mit ihr für das Album von Alice Sara Ott und Francesco Tristano ein fotografisches Konzept zu entwickeln. Sie entschieden sich für ein reduziertes Setting, im Kontrast zum expressiven Repertoire der Aufnahme. Betonwände, schlichte Kleidung und improvisierte Markierungen mit Klebebändern erzeugten ein modernes, urbanes Flair, das gut zu den kosmopolitischen Biografien von Ott und Tristano passte. Es entstanden Fotografien, die die individuellen Persönlichkeiten akzentuierten, aber auch das Besondere ihres Miteinanders einfingen, jenes verschwörerhafte künstlerische Einverständnis, das auch vom Covermotiv ablesbar ist.
Was Staggat anfangs übrigens nicht wusste: Francesco Tristano hatte zuvor im Studio des Detroiter House-Produzenten Carl Craig ein Album aufgenommen. Es war 2010 unter dem Titel Idiosynkrasia erschienen. Der klassisch ausgebildete Pianist bot hier House und Techno-Beats mit pianistischer Finesse dar. Ein Kreis schloss sich somit. Zum Zeitpunkt der Planungen für Scandale hatte Tristano aber auch schon zwei Alben bei DG veröffentlicht:
Alice Sara Ott hingegen war bereits seit 2010 Exklusivkünstlerin des Labels und hatte durch mehrere Soloalben mit frischen Interpretationen von klassischem Kernrepertoire für Furore gesorgt.
Gleich in ihrem ersten Jahr bei DG, also 2010, lernte Ott den Pianisten in London bei einer Veranstaltung von Universal Music kennen. Sie erinnert sich exklusiv für diese Cover Story an die Entwicklung der dort beginnenden Künstlerfreundschaft, die bis heute anhält und auch weiter gemeinsame künstlerische Visionen hervorbringt:
»Wir verstanden uns sofort, auch wegen unserer gemeinsamen Leidenschaft für japanisches Essen, und in den nächsten Jahren wurde es eine Art Tradition für uns, immer das beste japanische Restaurant zu suchen, wenn wir uns zufällig zeitgleich in derselben Stadt aufhielten. Wir sprachen immer davon, wie gerne wir uns einmal eingehender mit der Version für zwei Pianos von Stravinskys Le sacre du printemps beschäftigen würden und 2014 gelang uns dies mit Scandale, einem Duo-Album und Konzertprogramm, das wir als Hommage an Sergej Djagilew und jene Komponisten konzipierten, die am Anfang des 20. Jahrhunderts in Paris für das Ensemble der Ballets Russes arbeiteten und welche die Musik- und Kunstwelt schockierten und revolutionierten. Nachdem das Album veröffentlicht war, tourten Francesco und ich mit dem Programm durch 40 Städte auf der ganzen Welt – natürlich haben wir fast überall Japanisch gegessen – und es war ein einzigartiges Erlebnis, auf nur zwei Klavieren eine symphonische Welt erstehen zu lassen, mit diesen Stücken, die normalerweise von großen Orchestern mit um die 100 Instrumenten gespielt werden.
Unsere Scandale-Tour lief bis Ende des Jahres 2015 und Francesco blieb seitdem ein sehr enger Freund für mich, den ich sowohl als Mensch als auch als einen der brillantesten und vielseitigsten Künstler unserer Zeit schätze. Es bedeutete mir sehr viel, als er zusagte, das Eröffnungswerk für mein Album Echoes Of Life zu komponieren.«